Ich lese mit Betroffenheit, die aus gegenwärtiger Erfahrung resultiert, das Vorwort im Programmheft des ersten Musikprotokolls anno 1968: „Der Rundfunk, vielfach nur als Mittler und Verbreiter des aktuellen und kulturellen Geschehens angesehen, gewinnt in partiellen Bereichen zunehmend die Funktion eines Auftraggebers und Mäzens. Sein jeweiliger Standort wird Sammelpunkt der künstlerischen Elite, er dient der Avantgarde als Diskussionsforum, er sprengt die räumliche Beengtheit geistiger Auseinandersetzung durch die Reichweite seiner Ausstrahlung ... In dieser allgemeinen Entwicklung ist den Studios in den österreichischen Bundesländern eine besondere Funktion zubemessen. Sie haben die schöpferischen Kräfte der engeren Heimat zu aktivieren, dort, wo es am schwersten ist, Pionierarbeit zu leisten, Maßstäbe in Begegnungen mit Persönlichkeiten von internationalem Rang zu setzen ..." freilich, das Jahr ´68 versetzte uns alle in eine Stimmung des Aufruhrs und Aufbruchs. Was ich damals im Sinn hatte, entsprang einem Gespräch mit Gerd Bacher, der mir abschlug, als künftiger Intendant des Landesstudios das Forum Stadtpark weiter zu führen. Doch dort war in nächtlichen Gesprächen mit Hanns Koren die Idee entstanden, einen Steirischen Herbst unter Einbeziehung aller Kunstsparten zu gründen. Ich erzählte von diesem wagemutigen Plan und schlug Bacher vor, durch das Landesstudio ein Programm mit neuer Musik und Literatur einzubringen. Er zeigte sich einverstanden.
In späteren Gesprächen mit Bürgermeister Scherbaum konnte auch die Stadt Graz für die Teilnahme gewonnen werden. Somit waren die Vereinigten Bühnen ein gebunden, drei Partner hatten sich unter der Federführung des Landes vereinigt, der Steirische Herbst konnte aus der Taufe gehoben wer den.
Der Titel Musikprotokoll entstammte dem geringen Budgetansatz und der daraus abgeleiteten programmatischen Absicht. Mit dem Gestaltungsteam Ernst Ludwig Uray, dem in der Organisation von Konzerten erfahrenen Leiter der Musikabteilung des Landesstudios, und Peter Vujica, den ich als bedeutenden Kenner der neuen Musikszene vertraglich binden konnte, wurde die Einbindung von Orchestern und Ensembles ausländischer Rundfunkstationen vereinbart. Lediglich die Reise- und Aufenthaltsspesen sollten zu Buche schlagen. Man sollte an Kompositionen „zu Protokoll geben", was man eben in Auftrag gegeben hatte, was man für die Entwicklung der Musica nova für bedeutsam hielt. In dieser Absicht wurde das neugegründete Orchester des ORF einbezogen.
In Graz standen mit dem Akademiekammerchor und dem Joseph-Haydn-Orchester unter der Leitung von Karl Ernst Hoffmann und dem Collegium musicum instrumentale mit dem Dirigenten Max Heider Ensembles von Rang zur Verfügung. Solisten und Besetzungen für Kammermusik von internationalem Ruf mußten gewonnen werden.
Mit Lux aeterna von György Ligeti wurde das erste Musikprotokoll im ausverkauften Stefaniensaal eröffnet. In der Tat war in Österreich für die Auseinandersetzung mit dieser Musik ein Licht entzündet worden. Peter Vujica konnte bereits im Programmheft '69, als er Bilanz und Lehren für die Zukunft zog, „verblüfft
das spontane Interesse, mit dem man der Grazer Initiative des ORF im Ausland begegnete" feststellen, aber „vor allem die rege Anteilnahme, die das Grazer Publikum den Konzerten des Musikprotokolls entgegenbrachte."
Ich kann nicht verhehlen, daß es auch gegenteilige Erfahrungen gab: Manche Besucher verließen mit lautstarken Zeichen des Unmuts und türenschlagend die Konzertsäle. Professoren, die auf Einladung mit ihren Schillern gekommen waren, sahen sich irritiert dem Gelächter der jungen Leute ausgesetzt. Bald aber hatte sich ein Kreis von Interessierten gebildet, der zusehends urteilsfreudiger und kritischer wurde. Der internationale Ruf, den sich das Musikprotokoll als wichtigste Veranstaltung für neue Musik neben dem Warschauer Herbst in wenigen Jahren erwarb, trug wesentlich dazu bei. Man registrierte, daß Konzerte von ausländischen Rundfunkstationen übertragen, daß Mitschnitte in ganz Europa, in Amerika und Japan gesendet wurden: Mit Genugtuung hörte man, daß der Steirische Herbst mit dem Hinweis auf das Musikprotokoll in die Assoziation der Internationalen Festspiele aufgenommen wurde.
Als den Gestaltern des Musikprotokolls die Auszeichnung zuteil wurde, 1972 das Weltmusikfest der IGNM zu gestalten, konnte bereits eine stolze Bilanz gezogen werden. War mit zahlreichen österreichischen Erstaufführungen wichtiger Werke dem Nachholbedarf an Kenntnisnahme neuer Entwicklungen entsprochen worden, so wurden durch Aufträge Werke aus der Taufe gehoben, deren Komponisten in die Musikgeschichte vorgedrungen sind: Hans Erich Apostel, Friedrich Cerha, Edison Denisow, Vinko Globokar. Roman Haubenstock-Ramati, Heinz Heiliger, Marek Kopolent, Ernst
Krenek, György Ligeti, Mauricio Kagel, Darius Milhaud, Egon Wellesz. Bereits im ersten Jahrzehnt folgten wichtige Namen: Jorge Antunes, Luciano Berio, Luigi Dallapiccola, Dubravko Detoni, Witold Lutoslawski, Gösta Neuwirth, Alfred Schnittke, Otto M. Zykan.
Wer die Ergebnisse seiner Ambitionen in diesen Jahren des Aufbruchs miterlebt hat, weiß von Bedrückungen und Hochstimmung zu berichten: Der jährliche Kampf um das Budget, Aufführungen, die nicht den Erwartungen entsprachen, Komponisten, die über Interpreten nörgelten; auf der Glanzseite die Ereignisse, die im Gedächtnis für immer haften geblieben sind: Die Uraufführung des Gesamtzyklus der Spiegel von Friedrich Cerha beim Weltmusikfest, Heinrich Schiff, damals international noch ein unbeschriebenes Blatt, der mit Bravour das Cello-Konzert von Lutoslawski erstmals zu Gehör brachte, Krzystof Penderecki, der vielbejubelt seine Werke dirigierte, die Uraufführung des mit Urgewalt vorgetragenen Concerto grosso von Vinko Globokar, Clocks and Clouds von György Ligeti mit seinen sphärischen Intervallen, das Wandelkonzert in den Prunkräumen des Schlosses Eggenberg, dem Zygmunt Kauze bereits mit dem Titel Fete galante et pastorale ein barockes Gepräge gab, schließlich die Musik für die Grazer Altstadt, die der in Graz verliebte Amerikaner Robert L. Meran als Pache/bel Promenade, musikalische Zauberklänge über die Altstadt aus breitend, gestaltete.
Karl Ernst Hoffmann hat in den Folgejahren die Programmierung übernommen. Ich bin ihm mit persönlichen Bindungen, die ich zu Komponisten und Sponsoren geknüpft hatte, beigestanden. Nach seiner Ablöse hat Peter Oswald mit eloquentem Fachwissen neue Wege beschritten und Erfolge geerntet.
Christian Scheib ist es gegönnt, das Musikprotokoll in das vierte Jahrzehnt zu führen. Er hat die ursprüngliche Ambition aufgegriffen, die jungen Erscheinungen der internationalen Musikszene heranzuziehen, Aufträge zu vergeben und fördernd dort einzugreifen, wo die Qualität Zukunft verheißt. Es möge ihm, ankämpfend gegen den Müll akustischer Zeiterscheinungen, gelingen, dem Hörenswerten zu Ansehen und Durchbruch zu verhelfen.