Der Titel Vortex Temporum (Strudel der Zeit) bezeichnet die Entstehung einer Formel aus sich drehenden und wiederholenden Arpeggien und ihre Metamorphose in verschiedenen Zeitfeldern. Ich habe versucht, einige meiner jüngsten Untersuchungen zur Anwendung desselben Materials in unterschiedlichen Tempi zu vertiefen.
Drei klangliche Gestalten: die Sinusschwingung, als Ur-Ereignis, sowie Impuls mit oder ohne Nachhall und stationären Klang mit oder ohne Crescendo; drei verschiedene Spektren: „Harmonique", ausgedehntes und komprimiertes „lnharmonique"; drei verschiedene Tempi: Ordinario, mehr oder weniger verbreitert oder kontrahiert - das sind die vorherrschenden Archetypen in Vortex Temporum.
Abgesehen von der anfänglichen Drehformel, die direkt aus Daphnis et Chloe hervorgeht, liegt Vortex Temporum eine Harmonik zugrunde, die ihren Kern in den vier Noten des verminderten Septakkords hat, des Rotationsakkords par excellence. Tatsächlich ermöglicht der Akkord vielfältige Modulationen, wenn man nacheinander jede seiner Noten als Leitton betrachtet. Es handelt sich hier freilich nicht um tonale Musik, es geht vielmehr darum, zu erfassen, was in ihrem Funktionieren heute noch an Aktuellem steckt. Der Akkord befindet sich somit im Schnittpunkt der drei oben beschriebenen Spektren und bestimmt die verschiedenen Transpositionen. Er bildet den Knotenpunkt in der Artikulation der Tonhöhen von Vortex Temporum. In den vier, um einen Viertelton höher gestimmten Tönen des Klaviers liegt er original vor, wobei dieser Eingriff in die sonst unantastbare Klavierstimmung eine Klangfarbenverzerrung des Instruments einerseits und eine leichtere Eingliederung in die verschiedenen Mikrointervalle andererseits ermöglicht.
In den drei Sätzen kreisen die drei genannten Archetypen in Zeit-Konstanten, die so verschieden sind wie die des Menschen (Sprach- und Atemzeit), der Wale (Spektralzeit der Schlafrhythmen) sowie der Vögel und Insekten (extrem kontrahierte Zeit mit stumpfen Konturen). Durch dieses imaginäre Mikroskop wird eine Note zur Klangfarbe, ein Akkord zum Spektralkomplex und ein Rhythmus zum Konglomerat von unvorhersehbaren Dauern.
Die drei Abschnitte des ersten, Gérard Zinsstag gewidmeten Satzes entwickeln drei Aspekte der elementaren, den Akustikern wohlbekannten Schwingungen: Sinusschwingung (Drehform), Rechteckschwingung (punktierte Rhythmen) und Sägezahnschwingung (Klaviersolo). Sie verlaufen in einem Tempo, das ich als jubilierend bezeichnen würde - das Tempo der Artikulation, des Rhythmus und des menschlichen Atmens. Allein der Klavierabschnitt führt an die Grenzen der Virtuosität.
Der zweite, Salvatore Sciarrino gewidmete Satz nimmt identisches Material in gedehntem Tempo wieder auf. Die Anfangsgestalt ist hier nur einmal, über die ganze Dauer des Satzes gezogen, zu hören. Ich habe versucht, in der Langsamkeit den Eindruck von sphärischer, schwindelerregender Bewegung zu schaffen. Die aufsteigenden Bewegungen der Spektren und das Versinken der Grundtöne in chromatischen Abwärtslinien und die fortwährende Filtrierung im Klavier bewirken eine Art doppelter Rotation, eine helikoidale und kontinuierliche Bewegung, die sich um sich selber dreht.
Der dritte Satz ist Helmut Lachenmann gewidmet. Er stellt den Schwingungstypen des ersten Satzes einen langen Entwicklungsprozeß gegenüber. Kontinuität und mit ihr die ausgedehnte Zeit, in die die Ereignisse des ersten Satzes in größerem Maßstab projiziert werden, stellt sich erst allmählich ein. Die bereits im Verlauf des ersten Satzes unsanft behandelte Metrik ist oft im Strudel reiner Dauer ertränkt. Die dem harmonischen Verlauf zugrunde liegenden Spektren - zuvor im zweiten Satz entwickelt - breiten sich aus, um den Hörer die Textur erfassen und ihn in eine andere zeitliche Dimension vordringen zu lassen. Die komprimierte Zeit zeigt sich auch im Aufblitzen von übersättigten Momenten, die die verschiedenen Sequenzen noch einmal in einem anderen Maßstab zu Gehör bringen.
Zwischen den Sätzen von Vortex Temporum sind kurze Zwischenspiele geplant. Luft- und andere Geräusche und Klangschatten sollen die unfreiwillige Stille färben, die entsteht, wenn Musiker und Zuhörer zwischen zwei Sätzen Atem holen. Die Behandlung dieser Brücke, die von der Zeit des Hörens zu der des Wartens geschlagen wird, erinnert durchaus an „Derives", „Partiels" oder „Jour, contre-jour". Natürlich sind die Geräusche nicht ohne Bezug auf die Morphologie des Stückes. Das Material zugunsten der reinen Dauer aufzuheben, ist vielleicht nicht mehr als die Geschichte eines Arpeggios im Raum und in der Zeit, diesseits und jenseits unseres Hörfensters. Ein Arpeggio, das mein Gedächtnis nach dem Willen der Monate, in denen dieses Stück nieder geschrieben wurde, emporgewirbelt hat.
Wir sind Musiker, und unser Modell ist der Klang und nicht die Literatur, der Klang und nicht die Mathematik, der Klang und nicht das Theater, die bilden den Künste, die Quantenphysik, die Geologie, die Astrologie oder die Akupunktur.