Orchestrion-Straat
Orchestrion-Straat für Kammerensemble

Inmitten der Arbeit an diesem Stück stoße ich, als wäre dies von unsichtbarer Hand geleitet, auf den Band „13 nicht geheure Geschichten" von Hans Henny Jahnn. Es ist mir kein anderer Autor als er bekannt, der zugleich Schriftsteller und Orgelbauer war. Diese Verbindung schien die angemessene Grundlage für die Intensität zu sein, mit der Jahnn die Begegnung eines Knaben mit der Orchestrion-Musikmaschine einer Kirmes in Oslo zu beschreiben wusste.

Vieles von dem, was in diesem Text plastisch sichtbar - und für einen Komponisten sicher deutlich hörbar - wird, habe ich, genährt durch den Hintergrund eigener Erlebnisse, wiedererkannt: jener unbegreiflich perforierte Pappstreifen, in Blätter gefaltet, die an löchrige Käsescheiben erinnerten, die unentrinnbare Mischung der Töne mit den Antriebsgeräuschen von Motor und Pneumatik, die wundersame Mimesis der Pfeifenklänge, hier eine Violinflöte nachahmend, dort ein Tubakontrabass, da ein gekröpftes Saxophon. Und dazu noch die unnachahmliche Antiquiertheit des Äußeren gepaart mit einer Konstruktion von bestechender Funktionstüchtigkeit im Inneren.

Als ich um ein Stück für das Festival in Amsterdam im Juni 1996 gebeten wurde, war ich keineswegs überrascht, dass sich meine Vorratskammer an Gedanken spontan öffnete und bildhaft, in voller Länge und Pracht, ein Kompositum vieler mir bekannter Orchestrions vor mir stand, das keinen Wunsch offenließ. Es war in den Niederlanden, wo ich zum ersten Mal nach meiner Abreise aus Südamerika Automatophone und Drehorgel wieder hörte. Viele dieser Eindrücke blieben fest haften und warteten geduldig auf eine tönende Umsetzung. Die Straße aber, auf der mein Orchestrion spielt, ist diesmal das Konzertpodium selbst. Dies wird durch eine besondere Aufstellung verdeutlicht: die Mitwirkenden sitzen in einer Diagonale versetzt hintereinander, die von der vorderen rech­ten zur hinterem linken Ecke der Büh­ne verläuft.

Die Besetzung des Stücks berücksich­tigt durch Betonung der symmetrischen Disposition eine Charakteristik der Modelle. Die Instrumentalfamilien wer­den, bis auf wenige Ausnahmen, aus­schließlich paarweise eingesetzt. Dies bleibt nicht ohne Folgen für die Klangästhetik dieses Orchestrions; dagegen wurden die gängigen Musik­ sprachen gar nicht oder nur peripher eingearbeitet.

Und doch wünsche ich mir Kreiskarus­sells und automatische Orgeln als ernstzunehmende Träger ernster Musik unter freiem Himmel. Schrille, ohren­betäubende, krachende, ratternde Musikmaschinen als akustische Spen­der einer ungeahnten  Dimension der Unterhaltung - und fetter Einnahmen für die Betreiber. In Erwartung des neuen Repertoires widme ich mein Opus den Musikern draußen auf der Straße.

Mauricio Kagel
Interpret/innen

Klangforum Wien
Dirigent: Johannes Kalitzke

Termine
Location
Grazer Congress – Stefaniensaal
Konzert
Österreichische Erstaufführung
Biografien