(R)OHR
(R)OHR

Als ich das Rohr zum ersten Mal hörte, wusste ich, hier bin ich zu Hause.

Im Oktober 1986 arbeitete ich bei einer Produktion des K&K-Experimentalstu­dios im Klagenfurter Künstlerhaus mit. Zu den Requisiten des Bühnenbildes gehörte ein ca. 3 m langes und 13 cm lichtes Rohr aus 8 mm dickem Karton. In einer Probenpause legte ich aus Neu­gier ein Ohr an eine Öffnung des Rohrs, ohne zu ahnen, was mich erwartete. Das Rohr klingt. Und in seinem Klang verbinden sich alle Schallereignisse der Umgebung zu einer wunderbaren Harmonie. Sie werden durch das Teilton­spektrum des Rohrklangs in ein zartes Gewebe von Melodien verwandelt. Stel­len Sie sich vor, dass in allen Rohren ständig derartige Musik zu hören ist. Die Aufnahme, die ich damals machte, ist zwar technisch nicht besonders gut, in ihrer spezifischen Atmosphäre und ihrem Charme für mich jedoch uner­reicht, nicht zuletzt auch wegen des ungeplanten Auftritts des pfeifenden und aufgrund der Melodie später identifizierten Künstlerhaus-Cafe-Wirts. Ich nützte die Ruhe einer Probenpause für die Aufnahme. Der Wirt nützte dieselbe Ruhe, um sich umzusehen. Dass er fast genau in derselben Tonart (B-Dur) pfiff, in der das Rohr klang, natürlich ohne es hören zu können, ließ es mir zuerst kalt den Rücken hinunterlaufen und hat mich dann zu verschiedenen Hypothe­sen angeregt, die letztlich aber alle unbefriedigend waren. Als ich dem Wirt Jahre später davon erzählte, blieb er völlig unbeeindruckt.

In Innsbruck ging ich in ein Geschäft für Spannteppiche, um mir ein Rohr zu besorgen. Auf 5 m langen Kartonrohrkernen waren tausende von Teppichrol­len ausgestellt. An einem Stapel ausgeschiedener Rohre machte ich meine Hörversuche. Voll Skepsis beob­achteten mich die Lagerarbeiter; sie hat­ten den Klang der Rohre noch nie wahrgenommen, obwohl sie schon mehrere Jahre da arbeiteten. Sie began­nen es mir nachzumachen. Auf ihren Gesichtern mischte sich ungläubiges Staunen mit dem Ausdruck von Freude. Die meisten Menschen, denen ich das Rohr vorspielte oder die mich darauf ansprachen, weil sie es auf CD oder im Radio gehört hatten, zeigten sich auf eine ganz besondere, sehr persönliche Art berührt davon. Einmal stellte ich das Rohr in einem Vortrag an der Techni­schen Fakultät der lnnsbrucker Univer­sität vor. Ein Student fragte: "Was ist Kunst, wenn einer eine CD veröffent­licht, auf der zu hören ist, was jeder als Kind selber gemacht und gehört hat?" Ich konnte nicht herausfinden, was er hörte.

Das Phänomen bedeutet mir Grundsätzliches fürs Hören: sich zu öffnen. Neh­men Sie sich Zeit, das Ohr braucht einige Minuten, bis es sich dem klanglichen Reichtum des Rohrs, das heißt seinem Obertonspektrum, öffnet. Sie werden feststellen, dass Sie immer mehr hören - der anfangs undifferenzierte grundtönige Klang löst sich in ein fei­nes Geflecht von Obertonmelodien auf: die Luftsäule im Rohr wird durch den Umgebungsschall frequenzspezifisch in Schwingung versetzt: ein akustisches Ereignis in der Umgebung des Rohrs regt die entsprechenden oder benach­barten Frequenzen im (harmonischen) Teiltonspektrum der Luftsäule im Rohr zum Schwingen an und wird so gefiltert harmonisch dargestellt/abgebildet/hörbar. Zweierlei geschieht: die Umgebung des Rohrs, Menschen, Maschinen, Natur, werden durch die Obertonstruktur des Rohrs gehört - oder umgekehrt, die Obertöne des Rohrklangs werden hör­ bar gemacht durch den Lärm der Umge­bung.

In Zeiten intensiver Beschäftigung mit dem Rohr hörte ich ihm für viele Stun­den zu, bis ich schließlich auch in die­ser Weise hörte, wenn ich ihm nicht mehr zuhörte. Was hatte sich geändert?

Gunter Schneider
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