Permanenza
Permanenza für mikropolyphonisches, im Raum ver­teiltes Orchester bestehend aus 20 Live-Instrumenten und einer computerunterstützten Realisation von 50 Einzelstimmen (1994)

Über die Notwendigkeit

Man wählt sich nicht selbst, - man beschließt das nicht, man wird davon ergriffen - sich der Suche, der Interpretation, der Widerspiegelung des menschlichen Schreis zu widmen; der rbaren Darstellung dieses Zustandes, in dem ein Mensch sich vor sich selbst schutzlos findet; dieses Zustandes, in dem die Masken, die Rüstungen, die Verteidigungs-Prothesen, die die Gesellschaft feilhält, schon nicht mehr hinreichen, die Eigenschaft des Grotesken besitzen, nicht mehr helfen können, die unausweichliche Gewissheit-Evidenz zu lindern, dass die Notwendigkeit das Allernatürlichste ist; ein Bewusstseinszustand, in dem ein Mensch sich keiner determinierten Form mehr bedienen kann, nicht vor sich selbst, aber auch nicht vor den anderen: weil jedes frühere Modell, jede Antwort, die die Intention hätte, ein Bild der Wahrheit zu fixieren, die Glaubenscharakter annähme, vernichtet wird durch das, wovon er weiß, dass es einzig existiert als unermessliches Wagnis, ungeheure Bewegung, als unlösbar offene Frage, die keine Ausflucht , kein Widerwort zulässt; an diesem Punkt seiner Wahrnehmung, an dem er sich nicht mehr zugänglich, anpassungsfähig geben kann, das heißt: nicht mehr „funktio­niert"; an dem er sich mit dem Leiden der anderen Auge in Auge seinem eigenen Elend ausgeliefert findet. Das ist es, weshalb ich komponiere:

Um zu versuchen, das innerlich Geltende zu widerlegen und einzureißen um mich zu  ertränkenohne  nach  Luft zu ringen (der Produktion gebe ich nach mit Widerwillen und aus Erstickungsgefahr) um Konturen, Gewicht und Akkumula­tion des Raums und der Zeit aufzulö­sen, zu sublimieren um die Härte und Verhornung der Gedanken fließend zu machen um mein Dach aufzusprengen, und mei­nem Strom sich Bahn brechen zu las­sen, der hier im Inneren zersetzt, aber draußen bildet, beruhigt, heilttröstet um den eigenen Kampf vor den ande­ren zu vermeiden

um mich selbst zu besiegen

um meinen eigensinnigen Widerstand nicht aufzugeben

um ein Produkt uneben, deutlich und dicht wie Stein zu erreichen, das ermög­licht, diese Existenz rechtfertigen zu können

um sich dieser Existenz hinzugeben und sich zur Absolut-Notwendigkeit als dem einzigen Grund künstlerischer Produk­tion zu bekennen (- naiver, bequemer. prätentiöser, überheblicher, scheinbar freier Intellektualismus ohne eine reaktionsfähige, verantwortliche Haltung erzeugt auch Ungeheuer: In der mensch­lichen Natur existiert die Unbeweglich­keit nicht. Man generiert Bewegung, oder man verhindert sie).

Es  wäre  widersprüchlich, ein Klangma­terial in eine technisch-deskriptive Ana­lyse zu pressen, das im wesentlichen keine Vermittlung sucht, das heißt, getreulich der behandelten Materie dient und in jedem Augenblick identisch mit ihr ist. Diese Identität Materie-Material hätte, als Produkt, ein einziges Ziel: den Hörer zu treffen, bevor sich die Assoziation mit seinen Umständen ein­stellt, bevor sie ihm gestattet, seinen Wiedererkennungsmechanismus des von ihm erlernten, akzeptierten, bekannten Kontextes in Gang zu setzen. Eine Musik, die ihn entblößt, schutzlos, ohne Geschichte, Kultur, Verteidigung und Glauben antrifft. Die ihn auf seinen ersten Bezugspunkt verweist. Ursprüng­lich, frei im Ausdruck zu werden, wie er am Anfang war. Denn diese Materie spricht vom Schrei. Und der hat keine Geschichte. Weil er alles umfasst. Denn er ist der erste Grund. Der Notwendige. Und der letzte.

 

 

On Water

 

There are to be talks on water

in the framework of the multilateral pro­cess

the politicians have prophesied it

the public has demanded it

the newspapers have written commen­taries upon it

There are to be talks on water

the day shall be hot, the perfectly circular

burnished mahogany table surface shall

be installed

like a mirage in the conference room; a

single decanter of clear water shall be set at

the middle of it;

there shall be glasses, as many glasses

as there are representatives of govern­ments and organizations

that have an interest in water. And there shall be talks

on water ... On water ... On the glimmer of it,

on the suppressed sparkle, the murmur

also the hiss

as well as the little bubbles that are car­ried

along with it,

the way it fills up a glass to the brim

plus a little extra,

the meniscus, yes, the surface tension,

the necessity

for it, the thought of it, the odor, the

craving, the presence of it at last on the tongue and in the throat.

Jonathan Treitel

 

Über Wasser

(übersetzt von Jörg Paulus und Helga Lutz)

Über Wasser

soll im Rahmen der multilateralen Ver­handlungen gesprochen werden

so haben es die Politiker vorhergesagt so

hat es die Öffentlichkeit gefordert

und die Zeitungen haben es kommen­tiert

Es soll über Wasser gesprochen werden

an einem Tag. der so heiß ist, dass die vollkommen

runde spiegelblank polierte Mahagoni­-Platte

wie eine Fata Morgana im Konferenz­ raum schwebt; eine einzelne

Karaffe voll klaren Wassers wird in die Mitte des Tisches gestellt werden;

Die Anzahl der bereitstehenden Was­sergläser

wird der Zahl der anwesenden Regie­rungs-Vertreter und der Sprecher der Organisationen,

die sich mit Wasser beschäftigen, ent­sprechen. Und es soll über Wasser gesprochen werden ...

Ober Wasser! Über sein Schimmern,

über das unterdrückte Perlen, sein Gemurmel und Zischen,

sowie die winzigen Bläschen, die damit einhergehen,

und darüber, wie es ein Glas füllt bis an den Rand - und noch etwas höher,

den Meniskus, und die Oberflächen­spannung, seine Notwendigkeit,

und wie es die Gedanken erfüllt, wie es riecht, wie es verlockt, und schließlich

seine reale Gegenwart

auf der Zunge und im Schlund.

 

 

Über Permanenza

Dieses Werk repräsentiert die dritte Facette eines Zyklus, dessen zentrales Konzept auf die Erforschung und Ent­wicklung von Mikrotonhöhen-, mikro­rhythmischen und mikroräumlichen Proportionen durch Kombination inter­vallisch und rhythmisch äquidistanter Tonsysteme zielt. Es ist der erste Ansatz, die Übertragung mikrointerval­lischer auf mikrorhythmische Verhält­nisse unter Verwendung akustischen, instrumentalen Klangmaterials zu reali­sieren.

"Permanenza" zielt auf eine neue, über­ sättigte Form äußerst differenzierter Kontinuität, eine Art klangfarblichen Pointillismus; eine Mikrofragmentierung des Zeitraums in diskrete Schritte, die aufgrund der Unterschreitung der Grenze unseres rhythmischen Unterscheidungsvermögens (Verwischungsgrenze) durch Geschwindigkeit bzw. Dichte der einzelnen punktuellen Sig­nale eine neue, instrumentale Klang­qualität aus einer gefalteten Melodik aus Tonknoten und Tonknäueln schafft. Ist die Erzeugung solcherart mikro­rhythmischer Sukzessionen in der Live-Instrumentalmusik nicht möglich, so ist eine in Millisekunden steuerbare Abfolge - in diesem Werk bestehend aus 1450 verschiedenen feinen Ton­höhennuancen - mit akustischem Mate­rial durch Computer durchführbar (der kleinste Zeitwert von Chrononen, dem I. Teil der Komposition, ist die punk­tierte Vierundsechzigstelnote, d.h. eine 1/64-Sekunde oder ca. 16 ms).

Labile Gleichgewichte, der II. Teil des Werks, besteht aus der Übereinander­schichtung von 70 verschiedenen, in äquidistanten - isorhythmischen - Zeit­proportionen gestalteten Klangflächen. Die sieben im Raum verteilten Laut­sprecher, die die 50 Einzelstimmen aus­strahlen, vermitteln zusammen mit den 20 Live-Quellen - hierarchisch, im Rah­men einer umgekehrten pyramidenförmigen Konstellation, von unten nach oben im Raum verteilt - die punktuelle Differenzierung des Materials durch 70 gleichzeitige, verschiedene Geschwin­digkeiten in ständiger Phasenverschie­bung, ausgehend von einer äußerst langsamen Periodik (im Bereich der Wahrnehmung von Diskontinuität) bis zum Erreichen von Geschwindigkeitsab­läufen, die weit unterhalb der Verwi­schungsgrenze liegen und die eine kristallsplitterartige klangliche Kontinuität bilden. Die punktierte Zweiund­dreißigstelnote (= 1/32s, ca. 31 Millisekunden) dient in diesem Teil als kürzester Unterteilungswert, als gemein­samer Denominator oder virtuelle Zähl­einheit für die 70 verschiedenen Perioden.

Die Spannung, die die gleichmäßige, starre äußere Formstruktur der wieder­kehrenden isorhythmischen Perioden der afrikanischen Polyphonie südlich der Sahara (z.B. der Banda Linda) im Kontrast mit den inneren, asymmetri­ schen, äußerst komplexen Patternsschafft, welche sich, beruhend auf einer virtuellen, hyperschnellen Pulsation bis zu 12 pro Sek (MM= 720), gleichzeitig überlagern und in Phasenverschiebung stehen, war eine meiner wichtigsten, erneuerndsten Erfahrungen mit polyphonischen Strukturen. Gemeinsam mit der rhythmisch-metrischen Ambivalenz der hemiolen-artigen Musik der Zeit der Mensuralnotation (Ars Subtilior. XIV. Jh.) haben diese beiden Hauptquellen ein tiefes Zeichen in meiner Denkweise über Polyphonie gesetzt.

Das Werk ist reine Instrumentalmusik; selbst besondere Instrumentaleffekte gibt es in ihm nicht. Der scheinbar ver­fremdete Gesamtklang beruht auf der Anwendung des klangfarblichen Poin­tillismus: Durch das Übereinander­schichten einer großen Anzahl einzelner Fundamental- und Obertöne in mikro­ intervallischer Relation; Geschwindigkeiten unterworfen, die die Sukzessionsverwischungsgrenze unterschrei­ten; mittels einer diskreten Verteilung der einzelnen Klangquellen im Raum, entstehen illusionäre Klangfarben, die sich wesentlich von den Klangfarben der üblichen Instrumentalkombinatio­nen unterscheiden. Diese neue Farb­qualität entspricht weder der erkennbaren Qualität des zu-sehr-determinierten, von Konnotationen geprägten akustischen Instrumentalmaterials, noch der präformierten Prägnanz des charakteristisch elektronischen "Sound" (Vorgeformte elektronische Klangqua­lität ist nicht das letzte Wort, sondern was übriggeblieben ist).

"Permanenza" strebt die Repräsentation einer äußerst differenzierten, mehrdi­mensionalen Vielschichtigkeit, gleich­sam ein stereoskopisches Bild in ständiger Bewegung, an. Es bedeutet auch ein Zurückfordern, eine Bitte, eine Liebeserklärung, einen Appell: Eine Hommage an die Unwiederholbarkeit des Einzelnen, an das Charakteristische des Winzigen, an die einmalige Brillanz des Momentes, an das nicht-ersetzbare Eigene. Es ist letztendlich die entschie­dene Verweigerung vor jedem Zeichen passiver Neutralisierung dessen, was ich noch als originales, unterscheidbares, differenziertes, einmaliges Individuum verstehe.

Silvia Fómina
Interpret/innen

Klangforum Wien
Dirigent: Johannes Kalitzke

Termine
Location
Grazer Congress – Stefaniensaal
Konzert
Österreichische Erstaufführung
Biografien