Über die Notwendigkeit
Man wählt sich nicht selbst, - man beschließt das nicht, man wird davon ergriffen - sich der Suche, der Interpretation, der Widerspiegelung des menschlichen Schreis zu widmen; der hörbaren Darstellung dieses Zustandes, in dem ein Mensch sich vor sich selbst schutzlos findet; dieses Zustandes, in dem die Masken, die Rüstungen, die Verteidigungs-Prothesen, die die Gesellschaft feilhält, schon nicht mehr hinreichen, die Eigenschaft des Grotesken besitzen, nicht mehr helfen können, die unausweichliche Gewissheit-Evidenz zu lindern, dass die Notwendigkeit das Allernatürlichste ist; ein Bewusstseinszustand, in dem ein Mensch sich keiner determinierten Form mehr bedienen kann, nicht vor sich selbst, aber auch nicht vor den anderen: weil jedes frühere Modell, jede Antwort, die die Intention hätte, ein Bild der Wahrheit zu fixieren, die Glaubenscharakter annähme, vernichtet wird durch das, wovon er weiß, dass es einzig existiert als unermessliches Wagnis, ungeheure Bewegung, als unlösbar offene Frage, die keine Ausflucht , kein Widerwort zulässt; an diesem Punkt seiner Wahrnehmung, an dem er sich nicht mehr zugänglich, anpassungsfähig geben kann, das heißt: nicht mehr „funktioniert"; an dem er sich mit dem Leiden der anderen Auge in Auge seinem eigenen Elend ausgeliefert findet. Das ist es, weshalb ich komponiere:
Um zu versuchen, das innerlich Geltende zu widerlegen und einzureißen um mich zu ertränken, ohne nach Luft zu ringen (der Produktion gebe ich nach mit Widerwillen und aus Erstickungsgefahr) um Konturen, Gewicht und Akkumulation des Raums und der Zeit aufzulösen, zu sublimieren um die Härte und Verhornung der Gedanken fließend zu machen um mein Dach aufzusprengen, und meinem Strom sich Bahn brechen zu lassen, der hier im Inneren zersetzt, aber draußen bildet, beruhigt, heilt, tröstet um den eigenen Kampf vor den anderen zu vermeiden
um mich selbst zu besiegen
um meinen eigensinnigen Widerstand nicht aufzugeben
um ein Produkt uneben, deutlich und dicht wie Stein zu erreichen, das ermöglicht, diese Existenz rechtfertigen zu können
um sich dieser Existenz hinzugeben und sich zur Absolut-Notwendigkeit als dem einzigen Grund künstlerischer Produktion zu bekennen (- naiver, bequemer. prätentiöser, überheblicher, scheinbar freier Intellektualismus ohne eine reaktionsfähige, verantwortliche Haltung erzeugt auch Ungeheuer: In der menschlichen Natur existiert die Unbeweglichkeit nicht. Man generiert Bewegung, oder man verhindert sie).
Es wäre widersprüchlich, ein Klangmaterial in eine technisch-deskriptive Analyse zu pressen, das im wesentlichen keine Vermittlung sucht, das heißt, getreulich der behandelten Materie dient und in jedem Augenblick identisch mit ihr ist. Diese Identität Materie-Material hätte, als Produkt, ein einziges Ziel: den Hörer zu treffen, bevor sich die Assoziation mit seinen Umständen einstellt, bevor sie ihm gestattet, seinen Wiedererkennungsmechanismus des von ihm erlernten, akzeptierten, bekannten Kontextes in Gang zu setzen. Eine Musik, die ihn entblößt, schutzlos, ohne Geschichte, Kultur, Verteidigung und Glauben antrifft. Die ihn auf seinen ersten Bezugspunkt verweist. Ursprünglich, frei im Ausdruck zu werden, wie er am Anfang war. Denn diese Materie spricht vom Schrei. Und der hat keine Geschichte. Weil er alles umfasst. Denn er ist der erste Grund. Der Notwendige. Und der letzte.
On Water
There are to be talks on water
in the framework of the multilateral process
the politicians have prophesied it
the public has demanded it
the newspapers have written commentaries upon it
There are to be talks on water
the day shall be hot, the perfectly circular
burnished mahogany table surface shall
be installed
like a mirage in the conference room; a
single decanter of clear water shall be set at
the middle of it;
there shall be glasses, as many glasses
as there are representatives of governments and organizations
that have an interest in water. And there shall be talks
on water ... On water ... On the glimmer of it,
on the suppressed sparkle, the murmur
also the hiss
as well as the little bubbles that are carried
along with it,
the way it fills up a glass to the brim
plus a little extra,
the meniscus, yes, the surface tension,
the necessity
for it, the thought of it, the odor, the
craving, the presence of it at last on the tongue and in the throat.
Jonathan Treitel
Über Wasser
(übersetzt von Jörg Paulus und Helga Lutz)
Über Wasser
soll im Rahmen der multilateralen Verhandlungen gesprochen werden
so haben es die Politiker vorhergesagt so
hat es die Öffentlichkeit gefordert
und die Zeitungen haben es kommentiert
Es soll über Wasser gesprochen werden
an einem Tag. der so heiß ist, dass die vollkommen
runde spiegelblank polierte Mahagoni-Platte
wie eine Fata Morgana im Konferenz raum schwebt; eine einzelne
Karaffe voll klaren Wassers wird in die Mitte des Tisches gestellt werden;
Die Anzahl der bereitstehenden Wassergläser
wird der Zahl der anwesenden Regierungs-Vertreter und der Sprecher der Organisationen,
die sich mit Wasser beschäftigen, entsprechen. Und es soll über Wasser gesprochen werden ...
Ober Wasser! Über sein Schimmern,
über das unterdrückte Perlen, sein Gemurmel und Zischen,
sowie die winzigen Bläschen, die damit einhergehen,
und darüber, wie es ein Glas füllt bis an den Rand - und noch etwas höher,
den Meniskus, und die Oberflächenspannung, seine Notwendigkeit,
und wie es die Gedanken erfüllt, wie es riecht, wie es verlockt, und schließlich
seine reale Gegenwart
auf der Zunge und im Schlund.
Über Permanenza
Dieses Werk repräsentiert die dritte Facette eines Zyklus, dessen zentrales Konzept auf die Erforschung und Entwicklung von Mikrotonhöhen-, mikrorhythmischen und mikroräumlichen Proportionen durch Kombination intervallisch und rhythmisch äquidistanter Tonsysteme zielt. Es ist der erste Ansatz, die Übertragung mikrointervallischer auf mikrorhythmische Verhältnisse unter Verwendung akustischen, instrumentalen Klangmaterials zu realisieren.
"Permanenza" zielt auf eine neue, über sättigte Form äußerst differenzierter Kontinuität, eine Art klangfarblichen Pointillismus; eine Mikrofragmentierung des Zeitraums in diskrete Schritte, die aufgrund der Unterschreitung der Grenze unseres rhythmischen Unterscheidungsvermögens (Verwischungsgrenze) durch Geschwindigkeit bzw. Dichte der einzelnen punktuellen Signale eine neue, instrumentale Klangqualität aus einer gefalteten Melodik aus Tonknoten und Tonknäueln schafft. Ist die Erzeugung solcherart mikrorhythmischer Sukzessionen in der Live-Instrumentalmusik nicht möglich, so ist eine in Millisekunden steuerbare Abfolge - in diesem Werk bestehend aus 1450 verschiedenen feinen Tonhöhennuancen - mit akustischem Material durch Computer durchführbar (der kleinste Zeitwert von Chrononen, dem I. Teil der Komposition, ist die punktierte Vierundsechzigstelnote, d.h. eine 1/64-Sekunde oder ca. 16 ms).
Labile Gleichgewichte, der II. Teil des Werks, besteht aus der Übereinanderschichtung von 70 verschiedenen, in äquidistanten - isorhythmischen - Zeitproportionen gestalteten Klangflächen. Die sieben im Raum verteilten Lautsprecher, die die 50 Einzelstimmen ausstrahlen, vermitteln zusammen mit den 20 Live-Quellen - hierarchisch, im Rahmen einer umgekehrten pyramidenförmigen Konstellation, von unten nach oben im Raum verteilt - die punktuelle Differenzierung des Materials durch 70 gleichzeitige, verschiedene Geschwindigkeiten in ständiger Phasenverschiebung, ausgehend von einer äußerst langsamen Periodik (im Bereich der Wahrnehmung von Diskontinuität) bis zum Erreichen von Geschwindigkeitsabläufen, die weit unterhalb der Verwischungsgrenze liegen und die eine kristallsplitterartige klangliche Kontinuität bilden. Die punktierte Zweiunddreißigstelnote (= 1/32s, ca. 31 Millisekunden) dient in diesem Teil als kürzester Unterteilungswert, als gemeinsamer Denominator oder virtuelle Zähleinheit für die 70 verschiedenen Perioden.
Die Spannung, die die gleichmäßige, starre äußere Formstruktur der wiederkehrenden isorhythmischen Perioden der afrikanischen Polyphonie südlich der Sahara (z.B. der Banda Linda) im Kontrast mit den inneren, asymmetri schen, äußerst komplexen Patternsschafft, welche sich, beruhend auf einer virtuellen, hyperschnellen Pulsation bis zu 12 pro Sek (MM= 720), gleichzeitig überlagern und in Phasenverschiebung stehen, war eine meiner wichtigsten, erneuerndsten Erfahrungen mit polyphonischen Strukturen. Gemeinsam mit der rhythmisch-metrischen Ambivalenz der hemiolen-artigen Musik der Zeit der Mensuralnotation (Ars Subtilior. XIV. Jh.) haben diese beiden Hauptquellen ein tiefes Zeichen in meiner Denkweise über Polyphonie gesetzt.
Das Werk ist reine Instrumentalmusik; selbst besondere Instrumentaleffekte gibt es in ihm nicht. Der scheinbar verfremdete Gesamtklang beruht auf der Anwendung des klangfarblichen Pointillismus: Durch das Übereinanderschichten einer großen Anzahl einzelner Fundamental- und Obertöne in mikro intervallischer Relation; Geschwindigkeiten unterworfen, die die Sukzessionsverwischungsgrenze unterschreiten; mittels einer diskreten Verteilung der einzelnen Klangquellen im Raum, entstehen illusionäre Klangfarben, die sich wesentlich von den Klangfarben der üblichen Instrumentalkombinationen unterscheiden. Diese neue Farbqualität entspricht weder der erkennbaren Qualität des zu-sehr-determinierten, von Konnotationen geprägten akustischen Instrumentalmaterials, noch der präformierten Prägnanz des charakteristisch elektronischen "Sound" (Vorgeformte elektronische Klangqualität ist nicht das letzte Wort, sondern was übriggeblieben ist).
"Permanenza" strebt die Repräsentation einer äußerst differenzierten, mehrdimensionalen Vielschichtigkeit, gleichsam ein stereoskopisches Bild in ständiger Bewegung, an. Es bedeutet auch ein Zurückfordern, eine Bitte, eine Liebeserklärung, einen Appell: Eine Hommage an die Unwiederholbarkeit des Einzelnen, an das Charakteristische des Winzigen, an die einmalige Brillanz des Momentes, an das nicht-ersetzbare Eigene. Es ist letztendlich die entschiedene Verweigerung vor jedem Zeichen passiver Neutralisierung dessen, was ich noch als originales, unterscheidbares, differenziertes, einmaliges Individuum verstehe.