Es gibt im Grunde nur zwei Dinge: Rezitativ und Arie.
Oder anders gesagt: Eine Geschichte erzählen und die Zeit anhalten. Und noch anders: Das Nacheinander und die Gleichzeitigkeit. Das jeweils Erstere (das Zählen, die Abfolge) lässt sich auf einen Nenner bringen: Sprache. Das Zweite nicht; in ihm ist das Unsagbare mit eingeschlossen.
Manchmal denke ich, dieses Zweite könnte Musik heißen. Kein Sinn ist sowenig an die Linearität geknüpft wie das Ohr. Kein anderer Sinn ist des Gleichzeitigen so intensiv fähig. Und doch ist die Musik nur selten bereit gewesen, diese Fähigkeit zu nützen. Oft war sie nur die unterwürfige Dienerin der Sprache. Und ist es noch.
Sogar das Unsagbare stellen wir uns sagbar vor, und die Ewigkeit nach dem Modus der Sprache: als Ausdehnung. Als ein Auseinandertreten von Beginn und Ende. Als Verdünnung.
Ich behaupte das Gegenteil: Die Ewigkeit ist alles gleichzeitig. Ist Anfangen und Aufhören jetzt in diesem Augenblick. Ist das zusammengezogene, verdichtete Jetzt dieses Augenblicks in jedem Augenblick. Und die Folge dieser Augenblicke wiederum in jedem Augenblick. Jetzt und immer.
Alle Musik gleichzeitig aber, das ist der Wasserfall, das Rauschen. Alle Symphonien und Opern gleichzeitig, alle Jazz-Solos, die schon gespielt wurden und noch zu spielen sind, ein jeder Trommelrhythmus, der irgendwo geschlagen werden kann und ein jedes Gute-Nacht-Lied, auch das, das zu singen vergessen wurde.
Aber was wir wahrnehmen, ist nicht Alles. Was wir hören, ist nicht wirklich das Rauschen. Wir machen eine Auswahl. Wir machen das, was Debussy gesagt hat: Ich nehme alle Töne, lasse die fort, die mir nicht gefallen, und lasse die übrig, die mir gefallen. Diese Auswahl ist unser Sein.
Wenn wir am Wasserfall stehen, nehmen wir unsere Gedanken wahr, aber nicht den Wasserfall selbst; und wenn es uns gelingt, die Gedanken ruhen zu lassen, hören wir eine Melodie im Getöse. Ein jeder seine eigene!
Was sich da ereignet, ist von niemandem GEMACHT. Es ist nur durch das Rauschen ERMÖGLICHT.
Die Ermöglichung vor das Machen zu stellen, gibt es als Haltung in der Kunst. In der vorgeschichtlichen (vorschriftlichen!) Kunst vor allem: Man schafft nicht, und macht keine Werke, man trifft nur eine Anordnung (man setzt einen Steinkreis, man schlägt auf ein Tam-tam, man wiederholt oft und oft die gleichen Silben) - eine Anordnung, in der sich etwas ereignen kann.
In den osteuropäischen Ikonen hat sich dieser Gedanke gehalten. Und manchmal findet er sich in neuerer Kunst.
Nicht das VERSCHIEDENE zählt, sondern das GLEICHE, in dem sich das EINE ereignen kann.