Le poème de l'extase
Le poème de l'extase, op. 54

Im Januar 1905, noch vor der ersten Aufführung der III. Symphonie, schrieb Skrjabin in einem Brief an seine Frau Tatjana über die Komposi­tion einer neuen Symphonie. Wie so oft unter­schätzte Skrjabin die Zeit, die er für die Reali­sierung seiner Vorstellungen brauchte, und es dauerte mehrere Jahre, bis das Werk seine endgültige Gestalt gewonnen hatte. Auf diesem Weg verwandelte sich die Symphonie in eine symphonische Dichtung mit dem Titel „Poème de l'extase", deren Partitur Skrjabin nach einer hektischen Zeit letzter Verbesserungen im Dezember 1907 an den Belaieff-Verlag senden konnte. Schon vorher hatte Skrjabin eine Vers­dichtung desselben Titels veröffentlicht, die allerdings nicht als Programm zur Erklärung der Musik verstanden werden darf, sondern als zur Musik parallele, literarische Form eines ideellen Konzepts.

Im „Poème de l'extase" verlässt Skrjabin, geleitet von seinem Streben nach Konzentration, die traditionelle, mehrsätzige Symphonie­form. Das Stück ist über dem Grundriss eines Sonatensatzes errichtet: das bedeutet auf den ersten Blick die Auseinandersetzung mit einer anderen Tradition, dem von Liszt vorgeformten Modell der symphonischen Dichtung. Bei genauerer Betrachtung ist aber Skrjabin im „Poème de l'extase" dabei, sich auch davon frei zu machen, denn die sonatenhaften Ele­mente verlieren ihre für die Architektur des Werkes bestimmende Funktion.

In der Exposition des „Poème de l'extase" wird aus der traditionellen Folge von Einleitung, Hauptsatz, Seitensatz und Schlussgruppe ein wellenförmiges Nacheinander verschiedener Themenkomplexe: dem ANDANTE,   LANGUIDO zu Beginn antwortet ein ebenso langsames LENTO; erst danach wird ein rasches ALLE­GRO VOLANDO dagegengestellt, ohne dass dieser Abschnitt wie ein Hauptsatz das meiste Gewicht innerhalb des Formteils erhielte. Auch die nächsten Abschnitte - LENTO sowie ALLE­GRO NON TROPPO -, die für Seitensatz und Schlussgruppe stehen, scheinen sich einer Orientierung im alten Sinn zu entziehen. Die Verschiebung, die innerhalb des Sonatensatz­ Rahmens geschieht, wird entscheidend dadurch bewirkt, dass Skrjabin sich von den tonalen Beziehungen löst, auf denen die traditionellen Formteile gegründet waren; deren Modelle bleiben nur als Abbilder ihrer früheren Bedeu­tung erhalten.

Wie es keine Dominantspannung zwischen Haupt- und Seitensatz gibt, so schließt Skrjabins musikalisches Vokabular auch im einzel­nen die Auflösung komplexer Akkorde aus; an Stelle des Tonikadreiklangs steht meist eine Akkordkombination, die dann in einen anderen hochgespannten Akkord übergeht.

Die Durchführung, die eine Fülle von Motiven gegeneinander ausspielt, ist dreiteilig. Nach einem MODERATO beginnenden Abschnitt und einem ALLEGRO wird die Spannung durch eine Art Rezitativ vor dem TEMPESTOSO gestaut, aber Skrjabin geht über das Modell hinweg, indem er die (für die Symphonik des 19. Jahr­hunderts konstitutive) Gegenüberstellung von Durchführung und Reprise auflöst. Was wie eine Reprise beginnt, wird von Elementen einer neuen Durchführung aufgebrochen: damit gewinnt Skrjabin den Kontrast für die CODA, die mit einer gewaltig aufgetürmten Mauer aus Klang das Werk beschließt.

Gösta Neuwirth
Interpret/innen

ORF Radio-Symphonieorchester Wien
Domchor Graz
Einstudierung: Albert Anglberger
Dirigent: Jacek Kasprzyk

Termine
Location
Grazer Congress – Stefaniensaal
Konzert