Das französische Wort Rituel bezeichnet den Ablauf eines religiösen Kultes und - wenn dieser mit Musik verbunden ist - die adäquate Koordination von klanglichen und verbalen Ausdrucksmedien. Der Titel wurde gewählt, um dem 1974/75 komponierten Orchesterwerk die Bedeutung einer Totenfeier zu geben, die dem Andenken des am 13. November 1973 verstorbenen italienischen Komponisten und Dirigenten Bruno Maderna gewidmet ist. Darauf weisen die Worte hin, die Boulez selbst seiner Komposition voranstellt: ,,In ständigem Wechsel: gleichsam Psalmverse und Responsorien einer imaginären Zeremonie."
Es ist eine Zeremonie der Erinnerung: daher die vielen Wiederholungen immer gleicher Formeln, wobei sich dennoch Umrisse und Perspektiven wandeln. Es ist eine Zeremonie des Erlöschens, ein Ritual des Verschwindens und des Überlebens so prägen sich die Bilder der musikalischen Erinnerung ein - sind gegenwärtig und abwesend zugleich, in einem Zwischenreich ..."
Es ist schwer zu sagen, ob die Rückkehr zu zahlreiche n Ordnungselementen der Musik, wie sie hier geübt wird, ausschließlich im Zusammenhang mit dem Titel und dem von Boulez formulierten Programm steht, also ephemer bleibt, oder ob der französische Komponist nach einer längeren Periode, in der er aleatorischen Mitteln den Vorzug gab, nunmehr end gültig an seine durchkonstruierten Jugendwerke anschließt.
Jedenfalls ist in diesem Werk nicht nur die großformale Disposition genau organisiert, sondern auch die Struktur der kleingliedrigen Zusammenhänge. Am deutlichsten wird diese Durchstrukturierung in der zeitlichen Dimension, die durch viele Schlaginstrumente unter teilt wird, wobei neben Gongs, Tamtam, Tempelglöckchen und dergleichen besonders auch die indische Handtrommel Tabla auffällt, die ja auch in der Musik ihres Ursprungslandes zum Markieren von unregelmäßigen, für europäische Sinne über komplizierte Rhythmen benutzt wird.
Charakteristisch für dieses Werk ist fern er das Nebeneinander-Herlaufen von verschiedenen Zeitströmen unterschiedlicher Beschaffenheit. Diese rhythmische Heterophonie, die zu Unschärfen im vorausberechneten Zusammenklang der Stimmen führt - und konsequenter weise auch dazu, dass diese häufig nicht zusammen ihren Abschnitt beschließen - ist vielleicht als bleibendes Resultat aus der persönlichen Befassung der Komponisten mit Zufallsmanipulationen zu verstehen.
Die klangliche Schichtung des Werkes ist neben der rhythmischen das wesentliche Wirkungselement: sie wird im ersten Teil der Komposition stufenweise im Sinne einer zunehmenden Verdichtung aufgebaut und anschließend vom Höhepunkt aus nahtlos und ebenso stufenweise zurückgebildet. Eine Konstante, die dabei durch das ganze Werk geht, ist das Klangband der Blechbläser, das abschnittweise allein im Vordergrund steht, dann pausiert, um einer Gruppe anderer Instrumente die Alternative zu gestatten und sich schließlich mit dieser Gruppe zur Gesamtwirkung verbindet, etwa in der Art:
Instrumental- lnstr. I
gruppe I
Blech - Blech Blech
lnstr. II lnstr. II
lnstr. 1 Blech
Der Weg der zunehmenden Verdichtung führt dabei von den hohen und hellen Registern zu den tiefen und dunklen. Vom Maximum an werden die hohen Instrumente zuerst abgebaut, sodass am Schluss die tiefen alle in übrigbleiben. (Rudolf Klein )