identifications
Luna Alcalay
identifications – „tutti“-passagen für Streicher (1970), UA der revidierten Fassung von 1996

Whodentity oder: Die „Irreführung einer Identität“
Eine Skizze zu Luna Alcalays Komposition identifications

Die Komponistin Luna Alcalay schreibt im Jahr 1970 ein gut viertelstündiges Stück für Streicher, das unseres Wissens nach nie aufgeführt wurde. Sie nennt es identifications und wir beschließen, es würde als Stück einer Frau hervorragend zu unserem Festivalmotto „Whodentity“ und seinem Schwerpunkt auf dem Werk von Komponistinnen passen.

Wir haben uns also als erstes darum bemüht, dass aus der erhalten gebliebenen, handschriftlichen Partitur beim Verlag Ricordi ein Notenmaterial hergestellt wird, mit dem eine Uraufführung durch Musiker:innen des RSO Wien machbar ist. Interessanterweise hat Luna Alcalay 1996 nochmals eine geringfügige Überarbeitung der Originalpartitur aus 1970 vorgenommen. Eigentlich sind es kaum Veränderungen des Stückes, aber es finden sich einige aufschlussreiche, von der Komponistin in die Partitur eingetragene Anmerkungen, Beobachtungen, Analysen. Da findet sich die verbale Auflistung der chromatischen Tonreihe „c cis d“, die an dieser Stelle auch im Notentext zu finden ist, verbunden mit der verbalen Anmerkung „Irreführung einer Identität!“. Echt? Mit Rufzeichen? Irreführung einer Identität? identitfications? Whodentity? Kleine Motive aus drei bis viertönigen, chromatischen Motiven prägen weite Stellen des Stücks und insbesondere diese Passage. Alcalay schreibt in ihre Partitur: „cis – c – h“, oder „Ausgangston stehend – [as] a b h.“ oder „Kleiner Figurationsablauf – [f] e es d“. An anderer Stelle – im Notentext häufen sich chromatische Toncluster – schreibt sie hin: „Man findet sich nicht!“. Schon wieder bringt die flirrende Chromatik die Identität ins Wanken. Chromatische Whodentity. Stellt man sich jetzt noch ein nervöses Streicherklangbild vor, das sie kommentiert mit „Die Atem-Strukturen einhalten!“ und der Klangbeschreibung „Eng aneinander-reibende Tritonuse“ [sic], dann kommt man dem Klangbild dieses aufregenden Stückes in der Vorstellung wohl ein wenig näher.  

Statt weiterer Analyse kommt jetzt Luna Alcalay zweimal selbst zu Wort, selbstverständlich zum Thema Identität und zwar explizit der weiblichen Identität einer Komponistin. Es gibt ein Tondokument der Komponistin, in dem sie sich an die Entstehung des 1968 uraufgeführten Werkes für Chor und Orchester Una Strofa di Dante - wohl ihr bekanntestes Werk - erinnert. 1962 konnte sie bei den Darmstädter Ferienkursen ein Werk von sich vorstellen und bei dieser Gelegenheit wurde der Komponist und Dirigent Bruno Maderna auf sie aufmerksam.

 „Er war wirklich großzügig zu mir, muss ich ehrlich sagen.“ erinnert sie sich viele Jahre später an die schockierenden und empörenden Ereignisse aus der Mitte der 1960er Jahre, „Und er hat gesagt: ‚Gut, Lucia, schreib ein Orchesterstück und ich werde das in Rom uraufführen.‘ Oh, kannst du dir vorstellen: Wow, schreibe ich ein Stück. Denke ich: Wie soll ich das Stimmenmaterial finanzieren, das ist doch so teuer? Und meine Schwester hat gesagt: ‚Luzi, nimm einen Kredit!' Ich habe damals einen Kredit aufgenommen – wahnsinnig viel Geld war das. Drei Jahre habe ich den abbezahlt. Ich war ein armer Junglehrer. Ich habe das Stimmmaterial geschrieben und ein paar Monate später, wie der Maderna wieder nach Wien kam, sagt er: ‚Lucia, es tut mir leid!' Er hat gesagt, er habe dem Veranstalter gesagt, er spiele Musik von jemandem aus Wien, oh, molto bene, aber als er sagt, dass ich eine Frau bin, eine Komponistin, una compositrice, da war es aus. Ich habe das Konzert nicht gehabt. Dann hat Maderna gemeint: Schreib ein anderes Stück und wir werden versuchen, etwas in Wien zu machen. Und dann habe ich Una Strofa di Dante geschrieben und in zwei Jahren war dann in Wien eine Aufführung.“  Am 23. Jänner 1968 dirigierte Bruno Maderna dann das neu gegründete ORF Radio-Symphonieorchester und den ORF-Chor bei der Uraufführung des Werks von Luna Alcalay.  

Ein paar Jahre später ist die Schlagwerk-Komposition poèmes im Entstehen, das ensemble percussion peut-être graz wird das Stück beim musikprotokoll 1978 uraufführen. Im Februar desselben Jahres schreibt Luna Alcalay einen Brief an den damaligen Leiter des Festivals, Karl Ernst Hoffmann. In dem mit 15.2.1978 datierten Schreiben berichtet sie vom Fortgang der Arbeit an diesem Werk, aber dann fügt sie in typischem Alcalay-Humor ein Postscriptum zum Thema weibliche Identität an.

 „P.S.. Langsam komme ich ungewollt zu Ehren, es ist aber zum Lachen. Zuerst kämpfte ich jahrelang als ‚nicht-Frauenkomponistin‘ anerkannt zu werden durch Anonymität und jetzt scheint die ganze Welt es interessant zu finden, über die armen, schöpferischen Frauen zu berichten. Es wird eine riesige Ausstellung, im April glaube ich, sein in Wien über die Rolle der Frau in der Geschichte in Österreich, und eine Musiksoziologin nimmt mich in ihre Repräsentation auf als sozusagen auf weiter österreichischer Strecke einzige Avantgardistin. Auch die Unesco sammelt für eine Dokumentation Material über die komponierenden Frauen, der Verlag wendete sich an mich, um Biographisches zu senden. Also ich muss sagen, die Emanzipation beginnt tatsächlich, bitte lachen Sie nicht, ich amüsiere mich köstlich, wohl etwas verspätet in meinem Leben, aber doch!“

Text: Christian Scheib
Interpret/innen

RSO Wien
Dirigentin: Yalda Zamani

Termine
-
Location
Helmut List Halle
Konzert
Uraufführung
Dieses Werk gehört zu dem Projekt:
musikprotokoll 2022 | RSO Wien 2022