Penelopes Atem
Penelopes Atem

Penelopes Atem ist ein Ergebnis meiner Auseinandersetzung mit der Odyssee, die hier die Figur der Penelope beleuchtet. Während Odysseus' Suche nach der Heimat eine großflächige Irrfahrt bis ans Ende der Welt ist, findet sich das Fremde bei Penelope (belagert durch die Freier Ithakas) inmitten ihres eigenen Hauses. Ihre Odyssee beginnt, wo der eigene Resonanzraum entschwindet.

Ein entscheidender Eindruck für die Interpretation der Penelope waren für mich zwei zeitlich dicht beieinanderliegende Reisen nach Chicago und Tokyo, zweier Städte, die sich auf diametral gegen­sätzliche Art erschließen. Die städtische Struktur Chicagos entspringt der architektonischen Setzung. Fasziniert von der Vielfalt gigantischer Gebäude (Zyklopen?), durchläuft man die Stadt mit dem Blick nach oben, lässt das Auge Glasfassaden und Designerwelten entlangwandern, um schließlich im Innern eines Fastfood-Restaurants das Gesicht eines einzelnen Menschen zu fokus­sieren - Spiegel der Stadt und zugleich eine Welt für sich. Die Lesart Tokyos geht in entgegenge­setzte Richtung. Hier scheint das Geflecht der Großstadt einem Bonsai zu entwachsen, von dem aus sich Suppenküche, mittleres Wohnhaus, übereinander gelagerte Straßen, Hochhaus, Wolken­kratzer und schließlich Skyline erschließen. Beide Eindrücke relativieren die Gewissheit über Anfang und Ende des intimen und öffentlichen Raumes. Die Strecke zwischen meinem Auge und meiner Hand kann eine Irrfahrt sein, eine Großstadt die Einheit meines Ichs. Schatten vom Liebesblut, Federmund, Zeit, zaubert mein Bett voll Fische. Stunde dem Nebel im Zimtbad entflechtet, Vers du, so lebend, zerfliessend im Tau vom Bett-Tuch. (unica zürn)

Ähnliche Wahrnehmungsstrukturen beschäftigen mich beim Komponieren permanent, verbunden mit der Fragestellung, auf welcher Größenordnung sich Form und Gestalt konstituieren, ob der einzelne Ton bereits eine Welt für sich, oder ein komplexes Klanggebilde nur einen Punkt in größe­ren Zusammenhängen bildet. Diese Komposition lotet die Variabilität solcher Relationen aus und entwickelt daraus ihre Form sowie klangräumliche Gestalten. Ausgehend von der Polarität Stim­me und Orchester, können sich beide Seiten Resonanzraum sowie fremdes Gegenüber werden.

Die Stimme bezieht sich auf zwei Anagramme von Unica Zürn, deren Titelzeilen eine thematische Annäherung an Penelope zulassen. Ein Anagramm unterliegt dem strengen Regelwerk, allen Zeilen den identischen Buchstabenvorrat des Titels zugrunde zu legen. Mit jeder Entscheidung für ein Wort schränkt sich der Rest der Möglichkeiten ein. Versucht man an einer Stelle Sinn zu gewinnen, so entsteht an der anderen Unsinn. Auf diese Weise entwickeln sich sonderbare Wort­gebilde zwischen Intention und Zufall - die Odyssee beginnt hier im Inneren einer Zeile.
 
 

Isabel Mundry (2003)
Interpret/innen

Isabel Mundry, Komposition
Johannes Kalitzke, Dirigent
RSO Wien
Salome Kammer, Sopran
Alfred Melichar, Akkordeon

Termine
Location
Helmut List Halle
Konzert
Österreichische Erstaufführung
Dieses Werk gehört zu dem Projekt:
musikprotokoll 2004 | Mundry / Kalitzke | RSO Wien