Sei Murrum Phonies
Sei Murrum Phonies für Frauenstimmen und vier Orchestergruppen

Zu den sonderbaren Gefühlen, die mich bewegen, gehört das Wissen, dass Vorhaben, die ich jetzt zu Ende bringe, nicht mehr mit besserer Einsicht neu gemacht werden können. Ich schnüre das Bündel, mehr bedacht, es wegzulegen, als Proviant oder Nachricht zu hinterlassen, oder gar, etwas mitzunehmen. Da mir das Vertrauen in die verschiedenerlei Zukünfte zweifelhaft und das in die Nachwelt überhaupt abhanden gekommen ist, rede ich von den letzten Dingen, ohne von den kommenden zu träumen. Nach dem Abschluss des Proust-Zyklus, der mich während dreißig Jahren beschäftigt hat, bedeutet die Signatur unter der letzten Seite von Sei Murrum Phonies ein weiteres „nie wieder", dem ich nichts anfügen kann.

Im Titel des Stückes kommen verschiedene Vorstellungen in mehreren Sprachen zusammen: SEI (italienisch), es gibt sechs Abschnitte; MURRUM, ein Palindrom-Wort, das (kinderkram) hin und zurück über die Mur geht; PHONIES (englisch), früher „tönend", das jetzt nur noch „aufgeblasen", ,,falsch" bedeutet. Es steckt die „Simphonie" drinnen, wie Bruckner auf's Titelblatt schrieb, Knochenstücke aus der Kindheit, als ich zum Herrn Medizinalrat und Bruckner-Dirigenten ging, um ihm meine ange­fangene Symphonie zu zeigen.

Beim Schreiben dachte ich an den Stefaniensaal. Ich erinnere mich an ein Konzert im Jahre 1953, als die Zuhörer türenschla­gend - einer nach dem andern - vor einer neuen Symphonie die Flucht ergriffen. Symphonie, das ist vorbei. Ich habe seit 1956, als ich noch bei Karl Schiske studierte, nichts mehr für großes Orchester komponiert; statt dessen konzentrierte ich mich auf Kammermusik, auf die einzelne Stimme. 1977 gab es einen Entwurf für großes Orchester, Blasorchester und Tonband, mit im Saal verteilten Musikern, wie in Sei Murrum Phonies jetzt.

Im Jahr 1990 hatte ich die Gelegenheit, während einiger Wochen den Anfang aufzuschreiben, später im September die nächsten Abschnitte bis zur Hälfte des Stückes. Auf der Rückreise aus Ita­lien notierte ich:

,,... der ursprüngliche Plan von Phonies, ein paar Seiten vorher (im September 1989) festgehalten, ging von etwa 1O Minuten Dauer aus! Das war naiv, denn ich bedachte nicht, dass die (Selbst-)Darstellung der verschiedenen Ensembles auf den Emporen musikalische Zeit brauchte. Jede Gruppe (Holzbläser, Blechbläser, Frauenstimmen für sich) muss ja - anders als beim gemischten Zusammensein aller auf dem Orchesterpodium - zeigen: ich bin jetzt hier und dort oben; das Stück kann daher nicht mittendrin anfangen, sondern muss sich exponieren ... "

Nun verlangt aber mein Konzept, dass alles, was musikalisch geschieht, plötzlich und unvorbereitet geschieht. Auch wenn die Zeitvorstellung des Stückes sich verdoppelt hat: sein Grund und Anfang, dass die schreckliche Nachricht aus heiterem Himmel trifft, wird davon nicht berührt.

„Erst jetzt fiel mir wieder ein, dass das letzte Stück, das ich vor den Phonies für große Besetzung schrieb, das Requiem war, auch mit Chor und Orchester, im Sommer 1956. Auch da ging es um den sinnlosen Tod eines jungen Mädchens.

 

So bedeutet Leben, von der Wirklichkeit immer wieder eingeholt zu werden. Damals war ich nach Wien gekommen, aus der klei­nen in die große Stadt, und hatte erfahren, von der Verzweiflung umgeben zu sein; derer, die sich da und dort hamdrahetn", ob ich sie nun kannte oder nur von ihnen gehört hatte.

Dass Phonies nun dies alles zusammenfasst, deckt eine Grund­stimmung auf, die Utopie dessen, der ich 1956 war, der alle möglichen Katastrophen immer schon erwartet (vorausgewußsst) hat."

Es waren später nicht nur praktische Gründe, die mich davon abgehalten haben, für Orchester zu komponieren. Weil ich unabhängig, allein und in jedem Sinn entfernt war, unterstützten mich niemandes Interessen. Ich schrieb für kleinere Besetzungen, weil Kammermusik weniger auf Institutionen angewiesen war und aus der direkten und wechselseitigen Erfahrung von Komponist und einzelnen Musikern entstehen konnte.

Als Franz Schreker 1919 meinte, das Orchester selbst sei das Instrument, für das er komponiere, wies er damit auf eine grundlegende Veränderung hin, die die Musik des 20. Jahrhun­derts von der früheren trennt: mit der Tonalität verschwindet auch die bis dahin gültige doppelte Bestimmung von Musik als Tonsatz-Modell auf der einen und dessen klanglicher Realisie­rung auf der anderen Seite. Richard Strauss, der an den Rand des Textbuchs a-moll schreibt, Gustav Mahler, der im ersten Entwurf mit wenigen Noten den musikalischen Verlauf vorzeich­net, oder Claude Debussy, der Pelleas et Melisande zuerst als Klavierskizze niederschreibt, sie alle beziehen sich noch auf dies doppelte Wesen.

 

Zu instrumentieren, aber auch der Begriff von Orchester, der damit zusammenhängt, das ist vorbei. Mich hat das auch nie interessiert, da ich, seitdem ich begann, Noten aufzuschreiben, mir Stimmen vorstellte und nicht einen Klang, der sich dann seine Stimmen sucht. Meine Vorstellung, für Orchester zu schreiben, sucht sich ihren Weg von der Einzelstimme zum Gesamtklang; freilich halte ich mich für gescheit genug, zu wis­sen, dass eine vollgeschriebene Partiturseite von Einzelstimmen noch keinen Orchesterklang ergibt.

Ich schrieb Sei Murrum Phonies zum Gedenken an Iren von Moos. Es sind Stimmen von Frauen zu hören, denen gab ich Wörter zu singen:

 

Ich bin gegangen und ich werde bleiben. Frieden

fünffach: so und schreien

zeig am ton vom norden

einzig toves schaum, monatsschein

im morgen, zoo-veduten, sei

vagen moorisch mond zu

min, zu eringedacht. O VOS OMNES!

Zog meins noch vom seiden trauer

MOTZ SON um dich neigen, so

vasen, dorisch, o zum minnET EGO

VADAM schien vor noten zog sie um

(a schene stimm, zornig o von due­-

stern zonen saum moeg ich VOID

dich missen - augen not - vom

o zer-)

toene zorn davon, muß ich gemi­-

eden suchen. Zog mit moos

nirvanirgends zu.

Schon atome vom eisen, so

von memorien dich zu tag

Gösta Neuwirth
Interpret/innen

RSO Wien
ORF-Chor
Dirigent: Johannes Kalitzke
Co-Dirigenten: Erwin Ortner, Orm Finnendahl, Tobias Kunze

Kooperationen

Kompositionsauftrag des Bundesministeriums für Unterricht und Kunst

Termine
Location
Grazer Congress – Stefaniensaal
Konzert
Uraufführung