Die Logik der Engel: Llullophon
Die Logik der Engel: Llullophon

Die Logik der Engel
Oder: Ramon Llull und die künstlerischen Wahrheiten
Musik aus dem 21. Jahrhundert mit Musik aus dem 13. und 14. Jahrhundert
Ein musikprotokoll Projekt mit sieben Uraufführungen. Für Klanginstallationen, Konzerte und CD.

„Freigeist“ wäre wohl in anderen Epochen eine Bezeichnung für ihn gewesen: Er schreibt und publiziert eine erkleckliche Anzahl von – über 200 – umfangreichen, unorthodoxen, theologisch-philosophischen Werken, und das, ohne Mitglied einer Universität, Mitglied eines Mönchsordens oder am Hof eines Fürsten oder Königs engagiert zu sein. Ein freiberuflicher Schriftsteller im 13. Jahrhundert.

Stichworte zur Biographie: Aufgewachsen am Hof von Jakob I von Aragon in Palma de Mallorca, bald Erzieher des späteren Jakob II. Großzügiges Leben, Heirat, Kinder. In der Kunst: Texter von Troubadour-Lyrik. Dann Umkehr. Autodidaktisches Studium der Theologie und des Arabischen. Ausgedehnte Reisen in alle Regionen rund um das Mittelmeer bis in die heutige Türkei, auch nach Tunesien beispielsweise. Selbstverständlich nach Rom und vor allem ins damalige Zentrum katholischer Gelehrsamkeit, nach Paris. Lehraufträge an der Sorbonne, Verfechter der Einrichtung universitärer Lehrstühle für Arabisch, Hebräisch und Chaldäisch. Schreibt seine Bücher wahlweise auf Lateinisch, Arabisch, Katalanisch. Damit eigentlich der Begründer westeuropäischer Orientalistik und Begründer des Katalanischen als Kunstsprache.

Und Vordenker des Algorithmus als Computersprache. Letzteres geht so: In ein Umfeld heftiger Auseinandersetzungen zwischen den drei monotheistischen Religionen hineingeboren und als theologisch denkender Philosoph – oder umgekehrt – weiterhin diesen Spannungsfeldern ausgesetzt, erfindet Ramon Llull ein Gedankenmodell, das durch ein System der Kombinatorik von Begriffen auf logische Weise Wahres von Falschem unterscheiden können will. Dazu erfindet er eine aus mehreren, zueinander verdrehbaren Scheiben bestehende Maschine, die die daraus ableitbaren Begriffskombinationen als Algorithmen der Wahrheitsfindung definiert.

Selbstverständlich war dies als viel zu rationalistisch – oder sagen wir es in Anlehnung an Begriffe, die zu Llull Lebensepoche passen: als zu neuplatonisch anstatt scholastisch – nicht Romkonform und wurde verboten. Vergessen wurde es allerdings nie. Es gab immer heimlich agierende „Llullisten“ und Gottfried Wilhelm Leibniz bezieht sich schließlich bei der Begründung der mathematischen Logik auf ihn. Heute tun das Computerwissenschafter, die mit Erstaunen und Akribie erforschen, dass es eine hochmittelalterliche Logikmaschine auf Basis algorithmischen Denkens gibt.

Und damit sind wir an dieser Stelle in der Gegenwart gelandet. Musik aus der Zeit dieses „Freigeistes“ trifft auf Musik aus dem 21. Jahrhundert, auf sieben Auftragswerke durch das musikprotokoll. Keinerlei Vorgaben, die an die historische Ausgangsposition geknüpft wären, gibt es für die Komponierenden zu beachten. Mit zwei Ausnahmen: Aus der der Überlegung, dass Musik zu Ramon Llulls Zeit, ob es sich nun um weltliche oder geistliche Musik handelt, von solistischen Männerstimmen gesungen wurde, resultiert die Vorgabe an die sieben eingeladen Komponierenden: Es muss Musik für 2 bis 6 Männerstimmen sein. Und: Die Stücke sollten dreiteilig sein. Das führt zurück zu Ramon Llulls Logikmaschine aus drei drehbaren Scheiben. Für das musikprotokoll dient diese Maschine – als real gebautes Objekt – nun zur Kombinatorik von Musik aus Ramon Llulls Zeit mit in Auftrag gegebenen Kompositionen aus dem 21. Jahrhundert. Die mit Llulls Logikmaschine verfolgte Suche nach der alleinigen Wahrheit deuten wir – mit allem nur denkbaren Respekt – nun um in eine Maschine zur Erfindung möglichst vieler künstlerischer Wahrheiten. Je mehr das Publikum das „Llullophon“ bespielt, desto mehr künstlerische Wahrheit gibt es, desto reicher wird die „Logik der Engel“. Durch das Verdrehen der drei Scheiben zueinander lassen sich „neue Stücke“ aus Anfang, Mitte und Schluss der sieben neuen und fünf alten Werke kreieren. Mathematisch gesprochen ergeben zwölf Kompositionen in je drei Teilen 1728 mögliche Kompositionen. Aus denselben Werken und ihren je drei Teilen speist sich die Klanginstallation am „Keine Sorgen Turm“ in der Linzer Kunstausstellung Höhenrausch, die 2016 den Titel „Andere Engel“ trägt. Eine Klangkapsel, optisch Bezug nehmend auf Llulls Konstruktionen, fährt im Inneren des Turmes auf und ab, das Publikum mit der Vokalmusik der „Logik der Engel“ begleitend, überraschend, beruhigend. Als ob ein Engel die Himmelsleiter auf und abgleiten würde, seine Botschaften unbeirrt und singend verkündend.

Schlussendlich und vor allem aber gibt es die neu komponierten wie auch die circa 700 Jahre alten Werke auch in ihrer integralen Form zu hören, in Konzerten ebenso wie auf dieser CD. Colin Mason, der Leiter des Vokalensemble NOVA, hat nicht nur Vorschläge für die historischen Stücke zu diesem Projekt beigesteuert, er hat auch eine Abfolge der Stücke entwickelt, die sowohl der Aufführungspraxis des Konzertes – stimmliche Belastung, räumliche Anordnung et cetera – Genüge tun muss, als auch musikalische, inhaltliche, gedankliche, ja philosophische Überlegungen in einer Dramaturgie über die vielen Jahrhunderte hinweg erlebbar macht. Um die vielfältigen Bezüge auf diesen vielen Ebenen entspannter nachvollziehbar zu machen, präsentiert das Vokalensemble die Werke mit interpolierten Moderationen von Elke Tschaikner und Christian Scheib. 

post scriptum, eine Warnung: Musik für solistische Männerstimmen aus dermaßen weit voneinander entfernt liegenden Epochen kann wie ein Vexierbild wirken. Manch Altes klingt plötzlich modern wie nie zuvor, in manch Zeitgenössischem entdeckt das Ohr Klangstrukturen, die vorzutäuschen scheinen, Jahrhunderte alt zu sein. Der Schlussteil von Rudolf Jungwirths 2016 komponiertem „o angeli“ a tre voci entzieht sich mit engelhafter Eleganz jeglicher zeitlichen Verhaftung. Und gleich im ersten Stück auf dieser CD - Vito Žurajs „Ueaueoi“, dessen Titel sich auf das lateinischen "Puer natus est nobis" bezieht – heben irritierende Unisono-Passagen die zeitliche Zuordnung aus den Angeln. Und spätestens bei „Calextone qui fut“ von Solage entzieht uns ein Komponist aus dem 14. Jahrhundert jegliche routinierte Orientierung. In anderen Worten: Das Programm „Die Logik der Engel“ ist ein multiples Vexierbild, ein musikalisch-philosophisches Labyrinth, ein gedanklich-kompositorisches Spiegelkabinett.

Christian Scheib
Interpret/innen

Idee: Christian Scheib, Elke Tschaikner, Fränk Zimmer
Musik 21.Jhdt.: Joanna Wozny, Mateu Malondra, Erin Gee, Johannes Kerschbaumer, Rudolf Jungwirth, Vito Zuraj, Agata Zubel
Musik 13./14.Jhdt: Philipp der Kanzler, Adam de la Halle, Philippe de Vitry, Solage, Anonymus, Baude Cordier et al.
Interpreten: Vokalensemble NOVA
Konzeption, Realisation: Fränk Zimmer
Programmierer: Thomas Musil
Metallbau: Hermann Schapek
Support: Martin Gross
Turm-Technik: Höhenrausch Team
Redaktion: Lisa Kaufmann
Übersetzungen: Friederike Kulcsar
Aufnahmen: ORF - Radio Österreich 1
Aufnahmeort: Funkhaus Wien
Aufnahmeleiter: Jens Jamin
Schnitt: Otmar Bergsmann

Kooperationen

Produktion ORF musikprotokoll
Koproduktion Kunsthaus Graz, OÖ kulturquartier – Höhenrausch 2016

Termine
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Location
Kunsthaus Graz
Installation
Uraufführung
Dieses Werk gehört zu dem Projekt:
musikprotokoll 2016 | Die Logik der Engel: Llullophon