Berceuse Intégrale
Berceuse Intégrale für großes Orchester und Tonband (1982/ 83)

Seit einiger Zeit gilt mein besonderes Interesse der Idee, den formalen Ablauf eines Musikstückes auf der fortwährenden Gegenwart eines stets gleichbleibenden Struktunmaterials zu gründen, dessen Einzelcharaktere durch ständig wechselnde Verbindungen untereinander zu verschiedenen Einheiten zusammengekoppelt werden; Form entsteht allein in einer unterschiedlich dichten und veränderlichen Vernetzung der gleichen Gestalten. Dahinter steht die Absicht, in der Konstruktion eines musikalischen Prozesses paradoxale Zustände zu entwickeln: Dinge voneinander zu lösen und fremdherum wieder zusammenzufügen, Entwicklungslinien umzukehren, ihren Motiven mehrdeutige Funktionen zuzuordnen etc. Das formale Modell dieses Ansatzes ist eine Kugel, auf der in unregelmäßigen Abständen verschiedenfarbige Punkte angeordnet sind, die den Eigenschaften (Engrammen) der musikalischen Form entsprechen. Jede Position der Kugel ergibt eine entsprechende Perspektive, welche die Engramme in ein bestimmtes Raumverhältnis zueinandersetzt; damit ist die jeweilige Stellung der Motive im musikalischen Kontext bestimmt. Jede Drehung der Kugel beschreibt einen einzelnen Formteil, die Positionen der Engramme ihr Auftreten in Raum und Zeit.

Die Berceuse intégrale für großes Orchester mit Tonband, die während meines Aufenthaltes in Paris (1982/83) entstand, ist eine Hommage an Hieronymus Bosch, jenen Niederländer Maler, dessen faszinierenden, ebenso abstoßenden wie entzückenden Schreckensvisionen immer wieder aktuelle Bedeutung zuerkannt wird, und indessen Werk manch ein Anhaltspunkt für einen integralen Konzeptionsver­such enthalten ist. Der Leitfaden für die Berceuse ist das Triptychon ,,Der Garten der Lüste".

Das Bild zeigt eine dicht zusammengedrängte Fülle von Einzelereignissen, die aus immer wieder neuen Ableitungen derselben Ausdrucksmuster entstehen und zumeist im Zusammenhang mit einer paradoxen Situation auftreten. Das betrifft die Beschaffenheit der Figuren (z. B. die Verschmelzung tierischer und menschlicher Gliedmaßen), ihre Größenverhältnisse (Musikinstrumente als gigantische Folterwerkzeuge), ihre Bewegung (das Wiedereinschlüpfen ins Ei) usf. Die Umwertung von gewohnten Größenordnungen vollzieht den Übergang ins Irrationale, zeigt die Verwandlung ins mechanische Getriebensein der Welt durch das Laster .

Aus dem Paradies von Gewalt und Gefangenschaft, das wir hier sehen, suchte ich meine musikalischen Versuchungen zu gewinnen und durch das oben gezeichnete Formprinzip zu steuern.

Die mathematischen Ordnungen des Stückes beruhen auf den Grundverhältnissen des Bildes: den 3x3 Flächen des Triptychons entsprechen neun Tonhöhenskalen von je 3x3 Tönen, welche die harmonischen und melodischen Grundlangen des Stücks bilden, neun Formteilen, neun Zeitproportionen etc. Außerdem wurde ein Para­meter zur Steuerung von „Gegenwartsdauern" geschaffen, welche den prozentualen Anteil der neun Engramme (Grundmotive) in der Gesamtzeit bestimmen. Die neun Geschwindigkeiten von Engramm 1 (regelmäßige Repetitionen) erzeugen Bewegungen, die die Grund­motorik des Bildes übernehmen: Tanzen, Schreiten, Wiegen.

Neben der Verknüpfung dieser Rhythmen ging es in Anlehnung an die Vorlage darum, instrumentale Balanceverhältnisse zu verschieben, deshalb werden einige Instrumente verstärkt, ein Tonband hinzugefügt. Der elektronische Apparat ermöglicht die Veränderung instrumentaler Reichweiten und dient dazu, sowohl Tonhöhe als auch Lautstärke eines Klangträgers am seinen natürlichen Grenzen herauszutreiben.

So entstanden die Klänge des Tonbandes auf der Grundlage von Weingläsern, steel-drums, Aerophonen und anderen Schlagzeugen, welche - mit einem Computer analysiert und verarbeitet - zum Ende des Stückes hin zunehmend ins orchestrale Klangbild einbrechen. Dort spiegelt sich jene Poesie des Bösen, das Wechselspiel in verborgenem Kreislauf, getragen durch den Reiz leblos-farbigen Tons, dem Sog eines automatisch rotierenden Getriebes, dem Schwung einer übergroßen Prothese, dem das einzelne unterliegt.

Johannes Kalitzke
Interpret/innen

RSO Wien
Dirigent: Arturo Tamayo

Termine
Konzert
Österreichische Erstaufführung